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Die Philosophie Leibnizens

 

Mit Recht gilt Leibniz als Universalgenie. Er, der Barockmensch, verkörperte die Idee der Renaissance vom “uomo universale” und man könnte auf den Gedanken kommen, ihn neben Leonardo da Vinci oder Michelangelo zu stellen. Doch einerseits reichten die Interessen Leibnizens viel weiter als die der beiden Genannten, andererseits gibt es bei diesem ein bemerkenswertes Defizit. Leibniz hatte keinen großen Sinn für die Kunst und diese künstlerische Ignoranz teilte er mit den anderen philosophischen Größen seiner Zeit, also Descartes, Spinoza oder Locke. Gewissermaßen in Kompensation zur Kunstlosigkeit im Schaffen dieser Philosophen gewinnen ihre Denkgebilde höchste artifizielle Potenz. Und das gilt vor allem für Leibniz, dessen Metaphysik gehobensten ästhetischen Ansprüchen genügt.

 

Die Fähigkeiten Leibnizens erstreckten sich besonders weitläufig in den Bereichen Wissenschaft, Technik, Politik und Verwaltung. Sein letzter Dienstherr, Kurfürst Georg Ludwig von Hannover, nannte ihn eine lebende Enzyklopädie. Leibniz war jedoch keineswegs ein isolierter und vereinsamter Stubenhocker. All seine Projekte hatten einen praktischen konkreten Bezug, das Leben dieses Vielbegabten war die unablässige Inszenierung eines brillanten Feuerwerks von Projekten.

 

Neue Gedanken und maßgebende Untersuchungen entwickelte er namentlich in den Rechtswissenschaften, der Mathematik, der Physik, der Astronomie, der Sprachwissenschaft, dem Gesundheitswesen, der Ingenieurtechnik, der Musiktheorie, der Geschichte und Erdgeschichte, der Theologie und natürlich in der Philosophie.

 

Heute noch berühmt ist Leibniz als Entdecker der binären Zahlenreihe, in der jede beliebige Zahl durch 1 oder 0 ausgedrückt wird. Mit Isaac Newton zusammen gilt er als Vater der Infinitesimalrechnung. Er ist der Erfinder der ersten Rechenmaschine, die alle vier Grundrechenarten beherrschte, also Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division. Gerade die letzten beiden Rechenarten konnten mit den älteren Rechenmaschinen von Wilhelm Schickard oder Blaise Pascal - der sog. Pascaline - noch nicht durchgeführt werden.

 

Typisch für Leibniz sind seine zahlreichen Einfälle für alle möglichen Neuerungen. Um eine schnelle Verbindung zwischen Hannover und Amsterdam in der damals unglaublichen Zeit von nur sechs Stunden zu schaffen, sollte eine von Pferden gezogene Postkutsche in festen Spurrillen aus Holz, Stein oder Metall fahren; hier wird erstmals der Schienenstrang erdacht.

 

In einem großen Gebäude sollen ganz verschiedene Waren angeboten werden, die aufgrund des hohen Umsatzes auch preisgünstig verkauft werden können; Leibniz konzipierte hier das uns so wohl bekannte Warenhaus.

 

In einer seiner Denkschriften forderte er eine Versicherung zur Versorgung alter Menschen, meines Wissens die erstmalige Forderung nach einer Rentenversicherung. Über das Versicherungswesen verfaßte er überhaupt zahlreiche Schriften, die kürzlich in einem Sammelband veröffentlicht werden konnten.

 

In einer weiteren Denkschrift an den habsburgischen Kaiser zeigte er Möglichkeiten, für die Stadt Wien eine öffentliche Straßenbeleuchtung einzurichten, für uns eine Selbstverständlichkeit, damals im 17. Jahrhundert noch reine Science-Fiction. Er forderte die Einrichtung eines Amtes, das darüber informieren kann, wer wo was produziert. Err regte an, die Todesursache im Amtsregister festzuhalten, um so eventuellen epidemischen Erkrankungen leichter auf die Spur zu kommen.

 

In der Küche des Herrenhauser Schlosses versuchte Leibniz den Dampfkochtopf einzuführen und scheiterte, wie bei so vielen seiner Projekte.

 

Insgesamt hat Leibniz 75.000 Schriftstücke hinterlassen (Texte, nicht Seiten!), man geht von 200.000 - 300.000 Manuskriptseiten aus. Dazu kommen ca. 15.000 Briefe, die oftmals einen gelehrten Inhalt haben. Karl Popp, Erwin Stein, Hg., Gottfried Wilhelm Leibniz. Das Wirken des großen Universalgelehrten Philosoph, Mathematiker, Physiker, Techniker,  Hannover 2000, 26.  Nach 16 Ländern unterhielt er Kontakte mit 1100 Briefpartnern. Im 17. Jahrhundert gelang es ihm, lange vor der Existenz eines regelmäßigen Postdienstes, mit so fernen Städten wie Moskau, Goa, Peking, Kanton und der Insel Sumatra eine mehr oder weniger regelmäßige Korrespondenz zu unterhalten.

 

Diese enorme schriftstellerische Hinterlassenschaft ist bis heute nicht vollständig veröffentlicht. Seit 1923 verfolgen die Akademien der Wissenschaften in Berlin und Göttingen das Projekt einer Gesamtausgabe, erschienen sind etwa dreißig Bände, gut hundert sollen es werden.

 

Leibniz glaubte fest daran, daß er mit seinen Arbeiten und Erfindungen dem Wohlstand aller dienen konnte. Der mögliche Fortschritt der Menschheit als ein Zuwachs an Bildung, Wohlstand und Bequemlichkeit ist die Voraussetzung seiner Arbeit, seiner Ideen, Entwürfe und Gedankenspiele. Er warnt ausdrücklich die Mächtigen (in den Nouveaux Essais) vor einer Revolution, die Europa drohe, wenn das öffentliche Wohl weiterhin in hohem Maße mißachtet werde. Die Vorsehung käme dann den Menschen zur Hilfe, damit sich erneut der Fortschritt durchsetze.

 

Nun sind es doch immer Individuen, die gebildet sein wollen, die Wohlstand und Bequemlichkeit für sich erstreben. Im Vordergrund seiner Philosophie steht das Individuum und die Frage nach dem Wesen von Individualität. Seine Philosophie der Monaden - zu deutsch etwa "Individualseelen" - ist im zerstückelten Deutschland in der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg entwickelt worden. Dieses Deutschland bestand aus zahlreichen Grafschaften, Fürsten- und Herzogtümern, Reichsstädten und geistlichen Herrschaftsbereichen, die allesamt, zumindest nominell, dem Kaiser untertan waren. Diese politische Herrschaftsstruktur ähnelt in der Philosophie Leibnizens der Unzahl von Monaden, in ihrem Zusammenspiel das Ganze der Welt ausmachend, unter der Herrschaft Gottes.

 

Das zentrale Thema dieser Philosophie ist aber nicht nur das Verhältnis von Teil zum Ganzen, sondern genauer das Verhältnis von dem verschwindend kleinen Teil zur Gesamtheit des Universums. In seiner Infinitesimalrechnung entdeckt er im unendlich kleinen Punkt, indem er eine Tangente hindurchlaufen läßt, ein Charakteristikum für das Ganze der Kurve. Der Schnitt- bzw. Berührungspunkt repräsentiert die Kurve, indem sie durch die Tangente beschreibbar gemacht wird.

 

Im individuellen Menschen entdeckt er, indem er ihn als Monade versteht, ein Abbild und ein verkleinertes Modell des ganzen Universums. Thema der leibnizschen Philosophie ist das Verhältnis vom verschwindend kleinen Teil in einem geordneten Ganzen. Denn Gott hat die Welt als ein geordnetes, ein gewaltiges harmonisches Gebilde erschaffen; bei größter Vielfalt regiert höchste Einheit, und genau diese Wohlbemessenheit macht die Welt zur Besten aller Möglichen.