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Gesten berühmter Philosophen

 

"Gebärden des Wirklichkeitsverlustes" nennt Hans Blumenberg einen  Abschnitt über Gesten von Philosophen, und zwar offenbar deshalb, weil dann, wenn die Theorie nicht mehr weiterhilft, das simple Zeigen weiterhelfen soll. Doch die Gebärde muß nicht als Ausdruck der Hilflosigkeit stehen, Gesten können durchaus als additive Formen des Ausdrucks und damit als Wirklichkeitsgewinn aufgefaßt werden. Hans Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt/M. 1987, 49ff.

 

Spiegelt sich in Gesten der Geist? Diese Annahme ist viel stärker, als, wie Nietzsche, zu behaupten, bei jedem gelesenen Wort eine Gebärde zu sehen, nein, sie bedeutet eigentlich, daß der Leib die Theorie mit seinen Mitteln ausdrückt, während das Wort andere, der Philosophie üblichere Wege geht. Die Annahme ist die, daß eine Bewegung, Haltung, Gewohnheit gewordenen Verhaltensweise die zentrale Denkfigur ausdrückt, kurz, daß der Verhaltensgestus den Denkgestus widerspiegelt.

 

Über Kratylos, einem radikalen Anhänger des Heraklit, heißt es (H. Diels, W. Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, 1952/1956 8.A., I-III, abgekürzt DK, 52 A 4): Er habe zuletzt geglaubt, gar nichts mehr sagen zu dürfen und habe nur noch den Finger bewegt, denn man könne auch nicht ein einziges Mal in einen Fluß steigen. - Durch Zischen und Hinundherbewegen seiner Hände habe er seine Meinung kundgetan, das habe auch Aischines (nach Aristoteles) berichtet. (DK 52 A 2)

 

Anaxagoras, wegen Asebie (Leugnung der Staatsgötter) angeklagt, weil er die Sonne für eine glühende Steinmasse erklärt habe, wurde befragt ob er denn gar kein Herz für sein Vaterland habe, und bekannte daraufhin, daß ihm nichts mehr am Herzen liege als  sein Vaterland und wies dabei auf den Sternenhimmel. Diogenes Laertius, Leben und Meinungen der Philosophen Hamburg 1967 2.A. II, 7.

 

Im Zentrum der berühmten “Schule von Athen” von Raffael im Vatikan befinden sich Platon und Aristoteles: Der eine weist zum Himmel, der andere drückt die Hand herab zur Erde! Diese Gebärden werden zu Recht als Symbolik für ihre philosophischen Denksysteme verstanden, nämlich für den platonischen Idealismus und den aristotelischen Materialismus.

 

Der Stoiker Zenon von Kition vergleicht die offene Hand mit der Vorstellung (phantasia), die sich um die Sache schließende Hand mit der Zustimmung (synkatathesis), die geschlossene Hand jedoch mit dem Verstehen (katalepsis). Gelegentlich soll Zenon vor einer atemlosen Zuhörerschaft die geballte Faust noch mit der anderen Hand umschlossen und fest zusammengedrückt haben: Und das, sagte er, das ist Wissenschaft (episteme). Cicero, Lucullus 145, s.a. M. Pohlenz, Die Stoa 1959, S. 60; Stoicorum Veterum Fragmenta (SVF), hg. H. von Arnim, 1905ff.

SVF I 66.

 

Der selbe Philosoph illustriert den Unterschied zwischen Dialektik und Rhetorik mit der geballten Faust und der flachen Hand, die eine fasse Gedanken straff zusammen, die andere entwickle sie in breit dahinlaufender Rede. Max Pohlenz, Die Stoa, 1959, S. 52; SVF I 75. - Zu den Gesten der Stoiker vgl. K.-H. Rolke, Die bildhaften Vergleiche in den Fragmenten der Stoiker von Zenon bis Panaitios, Hildesheim 1975, 122ff. Verweis auf die Quellen: Sext. Emp. adv. math. 2,7; Quint. inst. orat. 2,20.7 und Cicero de fin. 2,17 u. Cicero orator 113.

 

Ekkehard Martens meint, wenn Chrysipp als Sitzfigur als an den Fingern abzählend abgebildet sei, so verrate dies einen dogmatischen Gestus! E. Martens, Die Sache des Sokrates, Stuttgart: Reclam 1992, 28. Das ist aber in der Tat ein recht dogmatischer Bildkommentar, danach wäre ja jede aufzählende Argumentation dogmatisch. Das in der essayistischen Philosophie verpönte Gliedern in “erstens, zweitens, drittens” hat jedenfalls unbestreitbare didaktische Vorzüge! Und Chrysipp war nicht zuletzt auch ein Lehrer!

 

In der Vorhalle des Freiburger Münsters befindet sich eine Darstellung des Triviums (Grammatik, Dialektik und Rhetorik) durch drei Jungfrauen. Wie die Dialektik “mit zwei Fingern ihrer rechten Hand in die erhobene Handfläche ihrer Linken deutet, findet sich als Argumentationsgestus auch anderwärtig.” Ulrich Nonn, Mönche, Schreiber und Gelehrte. Bildung und Wissenschaft im Mittelalter, Darmstadt 2012, S. 38.

 

George Faludy erwähnt in seinem Erasmus-Buch sogenannte “ciceronianische Bewegungen”: Fausto Andrelini war von Karl VIII. von Frankreich zum Hofdichter gemacht worden, hielt an der Sorbonne Vorlesungen über klassische Dichtung, von der er so gut wie nichts verstand. Er war von amüsanter, aber leerer Beredsamkeit; er hatte die Gewohnheit, die pechschwarzen Locken aus der beachtlichen Stirn zurückzuwerfen und “die Gesten seines rechten Arms mit kleineren, höchst ciceronianischen Bewegungen des linken Fußes”, fesselte jede Zuhörerschaft. G. Faludy, Erasmus von Rotterdam, Frankfurt am Main: Societäts-Verlag 1970 (zuerst London 1970), S. 66. - Mein Gott, man müßte wissen, was ciceronianische Bewegungen sind!

 

Dr. Johnson war der englische Literaturpapst des 18. Jahrhunderts und konnte unmöglich die philosophischen Überzeugungen eines noch recht jungen irischen Theologen namens George Berkeley dulden, die noch zudem lächerlich waren, weil sie die gegenständliche Wirklichkeit zu leugnen schienen. Boswell berichtet, zur Widerlegung trat er mit seinem Fuß in einem wuchtigen Stoß gegen einen Kieselstein, so daß der Stein ein mächtiges Stück fortgekickt wurde. Entspechend der Lakonik seiner tätlichen Äußerung erhob er die Geste zum Beweis und rief: I refute it thus. Er meinte, auf diese Weise die Immaterialismus-These von Berkeley überzeugend widerlegt zu haben, vor allem dessen Behauptung, daß alles Sein Vorgestelltsein ist. J. Boswell, D. Samuel Johnson, Zürich 1951, 172f.

 

David Hume war in den 1750er Jahren in Edinburgh bei Freunden zum Essen geladen. Man trank reichlich Wein, und beim Abschied lehnte der Skeptiker es ab, sich mit einer Kerze den Weg über die Stiegen zeigen zu lassen - und landete im Keller. Man sieht es vor sich, wie der trunkene Philosoph die Arme in die Dunkelheit vorstreckte, nutzlos - und jäh in einen Abgrund fiel. John Jardine stürzte herbei, half Hume seinen schweren Körper auf die Beine zu stellen und meinte: "Davie, ich habe dir oft gesagt, daß natürliches Licht nicht genug ist!' "  Gerhard Streminger, Hume, Reinbek 1986, 70f.

 

Als philosophische Geste schätzte Hegel, Hamann folgend, “die geballte Faust in eine geöffnete Hand zu entfgalten”. Ernst Bloch, Subjekt - Objekt. Erläuterungen zu Hegel. Erweiterte Ausgabe. Gesamtausgabe Bd. 8, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1962, S. 43. Hegel nennt die geöffnete Hand zwischen Menschen: Liebe, im Wissen: begriffene Geschichte, im Fürsichwerden insgesamt: Freiheit.

 

In „Köhlerglaube und Wissenschaft“ von 1855 macht sich Carl Vogt über alle diejenigen lustig, die an eine körperunabhängige Seele glauben, insbesondere aber über den bibelgläubigen Physiologen Rudolf Wagner. Diese Seelenkonstrukteure erinnern ihn an jenen Mechaniker, „der jahrelang an einem Perpetuum mobile baute. Wie weit bist du? Fragt ein Freund. Die Maschine ist fertig, antwortete jener, ich brauche nur noch ein Häkchen, das immer so macht – dabei bog er den Zeigefinger und streckte ihn wieder. In gleicher Weise suchen Herr Wagner und Konsorten in dem Gehirn ein Häkchen, das immer so macht...“ Carl Vogt, Köhlerglaube und Wissenschaft, 1855, 116

 

Ludwig Wittgensteins Gesten wurden von seinen Schülern in Cambridge nachgeahmt, seine Redewendungen wurden übernommen, selbst seine Schreibweisen wurden kopiert. Fania Pascal schrieb irgendwo, daß sie Menschen, die direkt mit Wittgenstein zu tun hatten, an deren Gesten erkennen konnte. Ray Monk, Wittgenstein. Das Handwerk des Genies, Stuttgart: Klett-Cotta 2. Aufl. 1992 (zuerst engl. 1990), 529.

 

Philosophen sind unsichtbare Wesen, sie werden nicht gesehen, sie werden nur in ihren Büchern wahrgenommen. Und Hörer heißen diejenigen, die sie gesehen haben. Wenn man Ludwig Marcuse glauben darf, eröffnet erst eine Gebärde des dozierenden Georg Simmel Einsicht in sein philosophisches Grundschema.

 

"An der äußersten Kante des Katheders stehend, mit einem spitzen Bleistift sich in irgend eine Unzulänglichkeit einbohrend, von Rembrandt und Stefan George und dem Geld und der Ästhetik des Henkels sprechend, setzte der zarte, behende, mausfarbene Mann etwas in Gang, was nie wieder zum Stillstand kam und eine der Seligkeiten ist: das grenzenlose Fort und Fort des Einsehens..."  Zit. Bei Peter Zudeick, Der Hintern des Teufels. Ernst Bloch - Leben und Werk. Baden-Baden: Elster-Verlag 1985, 35.

        

Auf der äußersten Kante des Katheders wippend, habe Simmel den Bleistift in die Luft gebohrt, gewissermaßen in einen unsichtbaren Stoff. Das deutet Marcuse als den Gestus des passionierten Analytikers. Darauf aber folgte eine weitere merkwürdige Verhaltensweise Simmels: Er verließ die exponierte Kathederkante, der gestreckte Bleistift sank zwischen die Finger; und mit gesenktem Kopf ging er stumm quer über das Katheder - bis er sich zur Fortsetzung der Vorlesung zusammenriß. Offenbar annulierte er in dieser stummen Sekunde der Selbstvergessenheit, was er soeben erbohrt hatte.

 

Dieser Wendepunkt entspricht so vielen Argumentationen Simmels, wenn er über die vermeintlich letzte Formulierung hinausgeht, sein eben gewonnenes Resultat vom Gegenpol  der Möglichkeiten her betrachtet und relativiert. Im lebendigen Vollzug des Lehrers, der das eben Vorgetragene hinter sich ließ, vermochte er das Hinausgehen aber nur stumm versprechen.

 

Abwegig in dieser kontrapunktischen Figur eine "unermeßliche Tragik" festmachen zu wollen, wie Blumenberg, als ein sich selbst in den Arm fallen, als Gestus der Vergeblichkeit des Denkens. Nicht der Verdacht der Sinnlosigkeit ist hier wesentlich, die sich dem modernen Gnostiker Blumenberg aufdrängt, sondern das Körper und Geist, jedenfalls in prominenten Momenten, eine bemerkenswerte Einheit bilden, wo die eine Komponente in  ihrer Sprache mitteilt, was die andere in der ihr eigenen ausdrückt. Vgl. Blumenberg a.a.O.

 

Edmund Husserl habe sein Leben lang Realität gesucht, heißt es! Und damit ist nicht nur jene Wirklkichkeit gemeint, an der man sich den Kopf blutig stoßen kann. In seiner handgreiflichen Hilflosigkeit drückt sich dieses Verlangen in einer seiner Gesten aus, die Plessner beschrieb. "Mir ist der ganze deutsche Idealismus immer zuwider gewesen", soll Husserl, nach einem Bericht von Hellmuth Plessner, einmal ausgerufen haben. " 'Ich habe mein Leben lang' - und dabei zückte er seinen dünnen Spazierstock mit silberner Krücke und stemmte ihn vorgebeugt gegen den Türpfosten - 'die Realität gesucht'. Unübersehbar plastisch vertrat der Spazierstock den intentionalen Akt und der Pfosten seine Erfüllung." H. Plessner, Husserl in Göttingen, GS IX, Ffm. 1984; Blumenberg a.a.O. S. 53.

 

Die Studenten in Freiburg nannten Edmund Husserl den "verrückten Uhrmacher", weil er bei seinen bohrenden Monologen häufig den Mittelfinger der rechten Hand in der gehölten linken Hand hin und her drehte. R. Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Martin Heidegger und seine Zeit 1994, 101f.

 

In seinem "Versuch einer Philosophie des Lebens" von 1931 schreibt Max Scheler über Henri Bergson. In dessen Philosophie komme eine ganz neue "Haltung des Menschen zur Welt und zur Seele" zum Ausdruck: "Diese Philosophie hat zur Welt die Geste der offenen, aufweisenden Hand, des frei und groß sich aufschlagenden Auges. Das ist nicht der blinzelnde, kritische Blick" eines Descartes, das fremde und durchbohrende Auge eines Kant ... Zit. bei R. Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Martin Heidegger und seine Zeit 1994, 71 (s.a. M. Scheler, Vom Umsturz der Werte, Bern 1955, 323).

 

Klaus Oehler, der Assistent in Frankfurt bei Gerhard Krüger war und damals auch Adorno und Horkheimer persönlich kennenlernte, beschreibt die Vorlesungsauftritte Adornos als gekünstelt und mit allen Tricks des Showbusiness angereichert. “Seine Auftritte waren bis in die Details inszeniert. Dabei ruderte er, während er sprach, rhythmisch koordiniert, seitwärts mit einem seiner Arme, der dann wie ein Propeller sich ausnahm. Ohren und Augen der Zuhörer oder Zuseher, je nachdem, waren voll beschäftigt. Hinzu kamen die artistisch gekonnten, ciceronisch überlangen Satzperioden, in die er seine Gedankenlabyrinthe verkleidete...” Klaus Oehler, Blicke aus dem Philosophenturm. Eine Rückschau. Hildesheim u.a.: Olms 2007, 108f.