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Zur Philosophie Friedrich Nietzsches

 

 

 

"Nietzsche war kein im eigentlichen Sinne grosser Mensch", so urteilte der Zeitgenosse und vielleicht beste Freund Franz Overbeck im Ton eines Oberlandesgerichtspräsidenten. Was ihn, Nietzsche, beherrscht habe, sei das Bestreben nach Größe gewesen. Vgl. Ross 787  Gut hundert Jahre nach Nietzsches Tod darf das Urteil revidiert werden. Nietzsche war einer der genialsten Menschen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die Folgen seines Lebens und seines Wirkens sind heute noch nicht abzusehen, und seine herausragende philosophische Bedeutung ist allgemein anerkannt.

 

Seine Zeitgenossen und Freunde haben Nietzsche ganz offensichtlich nicht oder falsch verstanden. Und Nietzsche ist in der Tat nicht leicht verständlich. Die interpretatorischen Probleme einer widerspruchsfreien Deutung seines Denkens sind bis heute nicht bewältigt und vielleicht ist das auch ganz unmöglich. Bemerkenswerterweise ist Nietzsche als Autor literarisch so eingängig lesbar wie kaum ein anderer. Daher läßt sich über ihn sagen: Kein Philosoph ist so leicht zu lesen wie Nietzsche, aber kein Philosoph ist auch schwerer zu verstehen.

 

Nietzsche ist wohl vor allem deshalb so schwer verständlich, weil er kein System entwickelte. Es gibt bei Nietzsche eigentlich keine zentralen Prinzipien oder Ideen; auch der "Wille zur Macht" oder die "ewige Wiederkehr des Gleichen" stellen keine derartigen Schlüsselbegriffe dar, die uns, wenn nur wohlverstanden, das Denken Nietzsches klärend erschließen könnten.

 

Dabei ist der Ausgang und Anlaß seiner Philosophie sonnenklar und unmißverständlich: Das größte Ereignis seiner Zeit, der Tod Gottes, erzwingt die Abkehr von den überkommenen christlichen Werten und eine Hinwendung zu neuen Werten, also eine Umwertung aller Werte; das ist, wenn man so will, der ganze Inhalt des nietzscheanischen Denkens. Nietzsche diskutiert nicht den Tod Gottes, er geht vielmehr als ein evidentes Faktum, das sich zwangsläufig ereignen mußte, davon aus.

 

Man könnte nun, dem heute weitverbreiteten Atheismus und Materialismus entsprechend, so verfahren: Gut, streichen wir den Glauben an den christlichen Gott, was liegt uns denn überhaupt noch daran, und kehren wir zur Tagesordnung zurück.

 

Nietzsche erkannte - neben Dostojewskij wohl als der einzige Mensch seiner Zeit - daß dieses Ereignis, der Tod Gottes, von beispielloser Bedeutsamkeit sei, daß es Folgen zeitigen würde, die - in Gestalt von furchtbaren Kriegen, Massenmorden und unzähligen Bestialitäten - jedem Vergleich mit damals Bekanntem spotten sollten.

 

Nietzsche sah sich zu diesen furchtbaren Vorhersagen, die im 20. Jahrhundert eine entsetzliche Bestätigung gefunden haben, veranlaßt, weil mit dem Tod Gottes ein ganz neues Weltverständnis notwendig sein und weil das alte ins Grab sinken würde. Der Glaube an den alten christlichen Gott schließt den Glauben an eine wahre Welt ein, an eine Welt des eigentlichen "Seins"; die zutreffende Rede über diese eigentliche Welt heißt "Wahrheit"; das dieser eigentlichen Wahrheit und dem eigentlichen Sein verpflichtete Tun und Lassen heißt Moral.

 

Wenn kein Gott, dann kein eigentliches Sein, dann auch keine eigentliche Wahrheit und keine eigentliche Moral. (Ni dieu, ni mètre.) Diese folgenschwere Konsequenz, die sich aus dem Tod Gottes ergibt, hat Nietzsche wohl als einer der ersten Menschen erfaßt und übersehen.

 

Nietzsche schreibt in der “Fröhlichen Wissenschaft”: "Das grösste neuere Ereigniss, - dass 'Gott todt ist', dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist - beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu werfen. Für die Wenigen wenigstens, deren Augen, deren Argwohn in den Augen stark und fein genug fur dies Schauspiel ist, scheint eben irgend eine Sonne untergegangen, irgend ein altes tiefes Vertrauen in Zweifel umgedreht: ihnen muss unsre alte Welt täglich abendlicher, misstrauischer, fremder, ‘älter’ scheinen. In der Hauptsache aber darf man sagen: das Ereigniss selbst ist viel zu gross, zu fern, zu abseits vom Fassungsvermögen Vieler, als dass auch nur seine Kunde schon angelangt heissen dürfte; geschweige denn, dass Viele bereits wussten, was eigentlich sich damit begeben hat - und was Alles, nachdem dieser Glaube untergraben ist, nunmehr einfallen muss, weil es auf ihm gebaut, an ihn gelehnt, in ihn hineingewachsen war: zum Beispiel unsre ganze europäische Moral. Diese lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz, die nun bevorsteht: wer erriethe heute schon genug davon, um den Lehrer und Vorausverkünder dieser ungeheuren Logik von Schrecken abgeben zu müssen, den Propheten einer Verdüsterung und Sonnenfinsterniss, deren Gleichen es wahrscheinlich noch nicht auf Erden gegeben hat?" Fröhl.Wiss. 5. Buch, Nr. 343, KSA 3, 573; zur Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte s.a.  KSA 13, 189f.

 

Für Nietzsche ist die Akzeptanz einer jeden nur denkbaren Metaphysik endgültig aufgehoben. Mit dem Glauben an Gott entfällt der Glaube an eine wahre Welt hinter der sichtbaren, entfällt der Glaube an eine Hinterwelt. Keine Metaphysik, d.h. keine endgültigen Aussagen über das Wesen von etwas ist noch länger möglich: Alle Aussagen sind vorläufig und sind abhängig vom Blickwinkel des Aussagenden.

 

Statt selbst eine neue Deutung für das Gesamtsein vorzuschlagen, wie die Philosophen vor ihm, verzichtet Nietzsche eben darauf, all diesen Deutungsversuchen einen weiteren Hintersinn hinzuzufügen, um ihn als letzte, neueste und nun aber wirklich wahre Welträtsellösung zu verkaufen. Man hat in der Lehre vom "Willen zur Macht" eine solche neue Deutung der Welt gesehen. Das ist falsch! Stattdessen versucht sich Nietzsche an einer Philosophie, die völlig darauf verzichtet, die Welt in einer abschließenden und endgültigen Weise zu deuten, sein Denken will vielmehr dem ewigen Werden und Vergehen gerecht werden.

 

Der Sinn von Sein besteht für Nietzsche allenfalls darin, sich möglichst einen eigenen Reim auf die Welt zu machen, wobei "Reim" heißen soll: in eigener möglichst unverwechselbarer Weise produktiv und kreativ zu sein, auf dem jeweils eigenen Gebiet. Oder anders formuliert: Aus dem "Du sollst" der traditionellen Moral soll ein bejahendes "Ich will" werden.

 

Während es dem freien Geist, dem höheren Menschen in nietzscheanischer Ausdrucksweise, gelingt, das "Du sollst" sich selbst bestimmend in ein "Ich will" zu transformieren, orientiert sich der so genannte „Herdenmensch“ immer noch sklavisch an einem unveränderlichen Moralkatalog und unterwirft sich jenen vorgegebenen und fremden Regeln, womöglich noch auf Belohnung hoffend. Doch die Herausforderung an den freien Geist, sich gemäß den permanenten Veränderungen einer unfixierbaren Werdewelt anzupassen, ist immens; Nietzsche selbst hat dafür eine neue Art von Menschen, den Übermenschen eben, postuliert. Doch auch die Lehre vom Übermenschen will keine neue Metaphysik bieten.

 

In der Antike waren zwei konkurriende Arten rhetorischer Ausducksweise bekannt: Attizismus und Asianismus. Der Attizismus frönt der Vorstellung, was auch immer dargestellt wird, es sollte klar und verständlich ausgedrückt werden. Attizistische Rhetorik verlangt eine bündige, knappe und wesentliche Darstellungsform.

 

Die gegnerischen Asianisten teilten ein bestimmtes Weltverständnis; ihnen erschienen die meisten beredenswerten Dinge ganz und gar nicht einfach, sondern labyrinthisch und kompliziert. Die Ausdrucksweise des Asianismus geht daher auf das extrem Gegenteilige hinaus: sie ist unmäßig, vieldeutig, gekünstelt, hält sich mit Beiläufigem auf, umzingelt wortreich einen Kern, der unausgesagt bleibt, ist einer perspektivischen bewußt täuschenden Darstellung verpflichtet. Kurz, die Asianisten sind der Meinung, daß eine rätselhafte Welt auch nur im Rätsel adäquate Interpretation finden kann. Vgl. G. R. Hocke, Manierismus in der Literatur, Reinbek 1959. Friedrich Nietzsche hatte eine Weltsicht, die in vielen Hinsichten dem antiken Asianismus entspricht.