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Robert  Burton  und  Baltasar  Gracián

 

 

Robert Burton verstarb im Jahr 1640. Den eigenen Tod hatte der gewiefte Astrologe zuvor sorgfältig berechnet. Das Gerücht will wissen, er habe dem rechtzeitigen Eintritt seines vorausberechneten Todes eigenhändig nachgeholfen. Vgl. Höltgen, Anglia 82,1964, S. 498 Er soll sich am astrologisch berechneten Todestag aufgehängt haben.

 

Der Suizid wird einem Mann nachgesagt, der sich ein halbes Leben lang mit Melancholie beschäftigte und, davon nicht unbeleckt geblieben, selbst ein Gefolgsmann der schönen “Kunst der Kopfhängerei” (Horstmann) wurde. Er verfaßte ein Buch, die “Anatomie der Melancholie” (Anatomy of Melancholy), das in seiner Art einzig ist. Ist doch das Buchthema der Melancholie nur eine Art Vorwand, wie es scheint, um tatsächlich über die ganze Welt, ihre Einrichtungen und ihre Phänomene zu schreiben, so weit sie ihm, dem gierigen Büchertrinker, bekannt geworden war.

 

Das äußerst umfangreiche Werk enthält zahlreiche Exkurse, die streckenweise das Thema Melancholie zu vergessen scheinen. Um seine Freiheiten als Autor zu genießen, beschimpft er gelegentlich selbst den Leser. Doch diesem, unterstützt vom einsichtigen Autor, wird mit der Zeit klar, daß ein Autor, der sich so verhält wie Burton, nur ein unverbesserlicher Melancholiker sein kann. Burton zeigt sich als ein Melancholiker, der genügsam Frieden mit seiner Krankheit, die nur in ihren unwesentlichen Teilen physischer Natur ist, geschlossen hat.

 

Die Hoch-Renaissance glaubte an die Würde des Menschen, der kraft seines vernünftigen und moralischen Wesens in der Kultur das regnum hominis auf Erden verwirklichen kann. Eine Krise des Selbstgefühls erschüttert dieses Selbstvertrauen; das Bewußtsein der miseria hominis verdrängt das optimische Menschenbild in der englischen Spät-Renaissance. Die Entdeckung der Unendlichkeit des Weltalls verkleinert den Menschen. Die Erschütterung des mittelalterlich-traditionellen Weltbildes ist der Auslöser der Krise.

 

John Donne schreibt 1611 in “An Anatomy of the World” anläßlich des Todes eines jungen Mädchens über die Gebrechlichkeit und den Verfall dieser Welt. Ähnlich bewertet John Milton in “Paradise Lost” die Erkenntnisse der Astronomie, die er aber abwiegelnd zu wunderlichen Meinungen der Menschen deklariert, über die der Schöpfer doch nur lacht. Und Robert Burton, dessen “Anatomy of Melancholy” erstmalig 1621 erschien, erteilt der Hoffnung, daß der Mensch diese Welt zu einem Paradies umgestalten könne, eine entschiedene Absage.

 

In Spanien verbreitet sich mit dem Beginn des Barock-Zeitalters, das dort rund fünfzig Jahre früher als in England (1610 statt 1660) beginnt, ein allgemeines Dekadenzgefühl, das mit Balthasar Gracián seinen Höhepunkt erreicht. Das barocke Lebensgefühl ist im wesentlichen ein überwältigendes Verlustgefühl. Thematisch typisch für den Barock ist die fast pathologische Sucht, etwas Neues, möglichst Ausgefallenes zu finden oder zu erfinden. Mit fiktionalen Ersatzleistungen soll die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies sublimiert werden. Vgl. Hartmann bes. 1-10

 

Burton wie auch Gracián sind Pessimisten: Die Welt bedeutet ihnen endlosen Kampf, und nicht jeder kann sich behaupten. Aber beide gehen unterschiedlich mit ihrer Weltsicht um. Während Burton Verzicht leistet auf die Hoffnung, die Welt könne je zu einer perfekten Welt werden, entwickelt Gracián eine Erkenntnistheorie für den lernwilligen Elitemenschen. Eine Theorie des guten Geschmacks soll den Ausnahmemenschen das Türchen öffnen, das Lebensglück heißt. Gracián ist der Erfinder des “buen gusto”, der seitdem zum stehenden Begriff geworden ist.

 

Europa diskutierte damals den modernen Menschen, im Zeichen des Humanismus wird ein neuer Mensch gefordert: in Italien nennt er sich gentiluomo: propagiert von Baldassare Castiglione in “Der Hofmann” (Il Libro del Cortegiano, 1528); in Frankreich honnête-homme: das Paradigma gibt LaRochefoucauld (1613-1680) in seinen “Maximen”; in England gentleman: Lord Chesterfield gibt in seinen “Briefen” die Anleitung für den wahren Gentleman (1760er Jahre).

 

In diese Reihe gehört auch Graciáns “Handorakel und Kunst der Weltklugheit” (zuerst 1647) als eine Anleitung für den Adel, um sich am fürstlichen Hof zu behaupten und zu reüssieren. Das Werk Graciáns geht aber über feinsinnige Beobachtungen allzumenschlicher Dumm- und Klugheiten hinaus, nämlich insofern hinaus, weil Gracián eine elaborierte Erkenntnistheorie anbieten kann, die schon für sich allein Gracián zu einem lesenswerten Autor macht.